Teil I: Lösungsorientiert Üben
In meiner jahrelangen Arbeit mit Musikern, in der es um die Bewältigung von Spielbeschwerden, Bühnenängsten usw. geht, ist das Üben immer wieder ein zentrales Thema. Im Folgenden möchte ich, ausgehend von einigen Erkenntnissen der Neurophysiologie bezüglich des Lernens, aus den Erfahrungen meiner dispokinetischen und formativen Praxis positive Strategien für das Üben aufzeigen.
"Ich muss üben!"
Untersuchungen haben ergeben, dass, wer als Musiker professionell werden will, ungefähr 10.000 Stunden braucht, um die nötigen Fertigkeiten zu entwickeln. Aber ein Zusatz ist entscheidend: Wenn es freiwillig geschieht!
Wie also steht es mit unserer Motivation? Sie hängt entscheidend davon ab, wie erfolgreich wir üben! Üben kann zu einem frustrierenden Kraftakt werden, wenn der Erfolg ausbleibt.
Wie ist es, wenn ich beispielsweise ohne ein langwieriges Einspielprogramm das Gefühl habe, gar nicht spielen zu können? Muss ich jeden Tag meine "Stütze" oder meinen Ansatz erst finden? Brauche ich die erste Stunde Üben am Morgen, um "ein Gefühl" für mein Instrument zu entwickeln? Ist ein Tag ohne Üben ein verlorener Tag?
Ich bin davon überzeugt, dass viele Musiker beim Üben reichlich kostbare "Lebenszeit" verschwenden und überdies noch ihre Freude am Spielen einbüßen. Für diejenigen, die unter Druck oder mit grobmotorischem Muskeleinsatz üben, kann eine solche Übe- und Spielpraxis gefährlich werden: Viele Überbelastungssyndrome bis hin zur fokalen Dystonie können ihre Ursache darin haben, dass Musiker ihre Zeit beim Üben vertun und nicht wissen, wie sie effizient üben und dabei Zeit und "Einsatz" ökonomisch organisieren können.
Sie arbeiten bis zur Erschöpfung, um gewiss zu sein, dass sie ihr Bestes gegeben haben. Üben ist aber keine moralische Pflicht, deren Erfüllung unser Gewissen beruhigen kann! Wichtig ist zu klären, wie wir üben!
Welche Voraussetzungen also ermöglichen Entwicklung und Lernen, statt sie zu blockieren?
Lernen
Neurobiologisch betrachtet bedeutet Lernen das Entstehen, Modifizieren und Verstärken plastischer neuronaler Repräsentationen im Gehirn.
Das Gehirn lernt immer. Ob ein Bewegungsablauf willkürlich oder unwillkürlich erfolgt - wir können nicht verhindern, dass wir lernen. Unser Gehirn spiegelt gewissermaßen in seinen neuronalen Repräsentationen in Form unterschiedlich starker Synapsen (neuronale Kontaktstellen) unsere Erfahrungen.
So entsteht unser ganz individuelles und einmaliges Bild von uns selbst, von dem, was wir als die Wirklichkeit erkennen - und z.B. auch von einem Bewegungsablauf oder von dem Ort der Töne auf unserem Griffbrett. Das nennt man Neuroplastizität.
Wiederholt sich eine Erfahrung, verstärkt durch bestimmte "Trigger", von denen im II. Teil in der folgenden Ausgabe noch die Rede sein wird, entstehen Vorstellungen. In diesen Vorstellungen sagt das Gehirn unsere Realität und das zu erwartende Handeln voraus.
Hier erkennen wir die Bedeutung des Übens: Indem wir üben, kreieren wir Vorstellungen. Beim Üben haben wir die Chance, Einfluss darauf zu nehmen, was wir lernen. Die durch Üben erarbeiteten neuronalen Repräsentationen sind vorweggenommene körperliche Organisationen: Wie es auf der "Festplatte" gespeichert wurde, wird es auch im Tun, in der Bewegung erscheinen!
Die "voreingenommene" Haltung
"Haltung kommt vor Bewegung." (G.O. van de Klashorst) Unsere Körperhaltung, die Beschaffenheit des Stuhls, die Einstellung anderer ergonomischer Hilfsmittel wie Kinnhalter, Schulterstützen, Gurte etc. tragen mehr oder weniger zu unserer Bewegungsfreiheit bei. So ist die Qualität der Ausgangshaltung beim Spielen auch ein wesentlicher Bestandteil des Bildes auf unserer "Festplatte" und entscheidend für das Gelingen beim Spielen.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine von vielen Musikern gepflegte Vorliebe eingehen: Zu Hause wird barfuß geübt, oder zumindest ohne Schuhe. Die wenigsten von ihnen aber haben jemals im Konzert ohne Schuhe gespielt!
Üben ist Vorbereitung, Vorbereitung auf die Bühne.
Deshalb rate ich Musikern, mit Schuhen zu üben und auch so ein Gefühl für Bodenkontakt zu entwickeln, damit es ihnen auf der Bühne auch zur Verfügung steht.
In einem Sängersymposium antwortete die jüngste Teilnehmerin auf die Frage nach den Voraussetzungen für das Gelingen eines Konzerts: "In meinem schulterfreien Kleid und meinen Konzertschuhen weiß ich, dass es gut werden wird." Stolz und Vorfreude z.B. können eine disponierte Haltung ausmachen, in der die Atemstütze dann ohne weitere Technik "sitzt". Ein schönes Beispiel für die Bedeutung unserer "voreingenommenen" Haltung!
Wie stehe ich? Was ist für mich eine stabile Haltung, mit der ich auch auf der Bühne "bestehe"? - Ich hoffe, dass ich mich im Probespiel werde freispielen können. Wie kann ich mir diese Erfahrungen ermöglichen, indem ich Bewegungsvorstellungen entwickle, die mein Spiel leicht und frei machen?
Musiker sollten sich auch beim Üben zu Hause ihre Körperhaltung bewusst machen und in den Gestaltungsprozess integrieren.
Richtig und Falsch - oder: "Daneben" ist auch eine Information
Üben ist ein Gestaltungsprozess. Musiker aber neigen dazu, beim Üben in den Kategorien von "Richtig" und "Falsch", also ergebnisorientiert zu denken. Die sofortige Bewertung verhindert, dass aus dem Erfahrenen gelernt werden kann. Ein "falscher" Ton ist nicht mehr falsch, sondern eine wichtige Information, wenn ich aufmerksam dafür war, wie er zustande kam. Ergebnisorientiertes Üben führt oft zu einem Übestil, in dem hauptsächlich wiederholt wird - in der Hoffnung, dass es klappt. Auf diese Weise erreicht man vielleicht eine relative "Trefferquote", nicht aber eine klare Vorstellung im Sinne eines verlässlichen Körpergefühls. Nur ein sicheres "Vor-gefühl" aber verleiht im Ernstfall Gewissheit, denn wenn ich auf der Bühne die Töne gehört habe, ist es zu spät!
Der "Ansatz" von Blechbläsern beispielsweise wird im Ernstfall um so verlässlicher sein, je sicherer der Musiker das Zusammenspiel von Körperhaltung, Atemsäule und "Mundmotorik" als Körpergefühl für jeden Ton "vorformen" kann.
Nach dem Prinzip "Trial and Error" sind "falsche" Töne in der Vorbereitung geradezu notwendig, weil die notwendige Unterscheidung zu Differenzierung und damit zu Präzision führt.
Ergebnisorientiertes Üben verhindert die notwendige Varianz von Erfahrungen, die es dem Gehirn ermöglicht, eine der Situation angemessene Wahl zu treffen. Je reicher und vielfältiger die - in diesem Fall motorische - Erfahrung, desto kompetenter und zielgerichteter das Verhalten.
In diesem Sinne liefert das lösungsorientierte Üben eine Fülle von Informationen für unser Nervensystem, die uns ermöglichen, das "Richtige" zu wählen:
Wie fühlt sich das an?
Diese Frage sollte eine Schlüsselfrage beim Üben sein.
Fühlt es sich leicht an oder schwer? Leichtigkeit ist angenehm und beflügelt. Unsere Muskulatur meldet einen angemessenen Tonus zurück. Schwere, Festigkeit, Enge oder gar Schmerz sind ein Signal für ein Zuviel an Spannung. Ist die "Ladung" meiner Haltung oder Bewegung öffnend (ezentrisch) oder schließend, nach Innen gerichtet (adzentrisch)? "Kämpfe" ich gerade mit dem Instrument oder gegen mich selbst? Setze ich mich unter Druck, weil mein Ehrgeiz mich reitet?
Auch Ehrgeiz und Konkurrenzkampf werden "verkörpert" und rufen unsere "Kampfmuskeln", z.B. den Biceps auf den Plan. Der Biceps aber ist ein Haltemuskel mit einer grobmotorischen Innervation und hat in der Instrumentaltechnik nichts zu suchen. Musikmachen hat etwas mit Ausdruck zu tun und ist ein feinmotorisches Geschehen.
Wo also liegt die Initiative meiner Bewegung? Von wo aus denke ich? Aus der Neurophysiologie wissen wir, dass Fingerspitzen, Zunge und Lippen die höchste Dichte an Nervenzellenenden aufweisen. Gleichzeitig verfügt unser feinmotorischer Apparat über die kleinsten Motorunits (Muskelfaserbündel pro Nervenzelle). Die Präzision des dazu gehörigen "Bildes" auf unserer Festplatte gleicht folglich gewissermaßen einem Photo mit hoher Auflösung. Von hier aus sind wir am "gefühligsten" und unsere Steuerungsmöglichkeiten am differenziertesten. Umgekehrt gilt: Je grobmotorischer, desto ungenauer.
Große Lagenwechsel am Klavier oder am Streichinstrument z.B. bleiben trotz häufigen Wiederholens oft heikel, wenn mit der Vorstellung vom "Sprung" oder "Schwung" der Arm die Bewegung anführt. Die feinmotorische Initiative aber würde bedeuten, von der Fingerspitze aus zu denken, als würde man auf den Zielton "zeigen".
Feinmotorik heißt auch: Krafteinsatz ist contraindiziert. Musiker entwickeln Ausdrucksbewegungen. Muskeltraining aber hat nichts mit Ausdruck zu tun. Nicht nur zu viel üben ohne "Sinn" (s.o.), sondern auch das Spielen mit grobmotorischen Bewegungsinitiativen oder Vorstellungen von Krafteinsatz verursachen Überbelastungen. Die unterschiedlichsten Erkrankungen des feinmotorischen Apparates oder eine Fokale Dystonie können die Folge sein. Oft hat der Körper schon seit längerer Zeit Unwohlsein gemeldet, das Musiker gerne übergehen, weil sie doch üben müssen. Dabei sind körperliche Warnsignale beim Üben, wenn sie ernst genommen werden, eine Chance zu lernen. Sie sind eine Einladung, nach einer besseren Lösung suchen. Auch wenn wir dabei manchmal von vertrauten Wegen abkommen und etwas ausprobieren, was bisher "verboten" war: Orientierungshilfe beim Üben ist immer das gute Gefühl.
Wie klingt es?
Wenn zwei Sinne miteinander korrespondieren, spricht man von Synästhesie. Aus Erfahrung wissen wir, dass Ohr und Bewegungssinn besonders gut zusammen arbeiten. Kommt ein dritter Sinn hinzu, beispielsweise das Auge, wird der Eindruck unpräziser. Üben ohne die Kontrolle der Augen ermöglicht es uns, genauer zu spüren, was wir tun und genauer zu hören, wie es klingt. So verbessern wir unser sog. Sensomotorisches Feedback.
Klingt es so, wie ich es mir vorgestellt habe? Wenn ich es auf diese Weise mache, klingt es so, wenn ich jene Vorstellung wähle, anders.
Wir können lernen, Haltung, Bewegung und Klang unmittelbar in Beziehung zu setzen. In diesem Sinne ist der Körper wirklich das Instrument des Musikers!
So entsteht beim Üben eine Art "Bewegungschoreographie", in der der Musiker seine Klangvorstellung verlässlich realisiert.
Rechtshemisphärisch Üben
Viele Musiker sind "Rechts-Denker": Sie bevorzugen visuelle Erklärungen, erinnern sich mit Hilfe von Vorstellungsbildern, produzieren Ideen intuitiv, mögen offene, fließende Erfahrungen und verarbeiten Informationen holistisch, d.h. ganzheitlich. Auch die Herausforderung, beim Musizieren mit mehreren Dingen gleichzeitig beschäftigt zu sein, ist eine Spezialität der rechten Hirnhemisphäre. Natürlich spielt sich nicht alles beim Musizieren "analog" ab. Musikmachen erfordert auch "digitale" und analytische Fähigkeiten, die eher der Funktionsweise der linken Hemisphäre zuzuordnen sind. Aber insbesondere bei der Entwicklung musikalischer Bewegungsvorstellungen sollte der Integrationsprozess der beiden Hemisphären von "rechts" nach "links" gehen. Musiker versuchen aber umgekehrt häufig, ein Stück zunächst einmal nur technisch "unter Kontrolle" zu haben und erst danach an die Interpretation zu denken. Zu spät merken sie dann, dass die Musik nicht mehr ins Fließen kommt, weil sie natürlich schon Bewegungsabläufe gespeichert haben, deren Ausdrucksqualität nicht mit ihrer musikalischen Vorstellung übereinstimmt. Manchmal vergessen sie dabei auch, dass das Ziel ihres Übens nicht darin besteht, etwas zu können, sondern ein Stück so zu gestalten, dass andere berührt werden von dem, was sie zu sagen haben.
Wie ist es, sich beim Üben zu Beginn durch die Klangvorstellung inspirieren zu lassen?
"Staccato" beispielsweise ist eine Spielanweisung, aber keine Klangvorstellung. Wie ist meine Klangvorstellung für diese Stelle? Z.B. Regentropfen auf einem Blechdach. Oder ich mache mir bewusst, wie sich die deutsche Übersetzung von staccato anfühlt: Abgestoßen. Was stößt sich wo ab? Die Bogenhaare von der Saite. Der Finger aus der Taste. Wie ist die Bewegungsrichtung? Hinein in die Taste oder heraus? Wenn ich "heraus" denke, klingt es freier usw. ....
In den Noten steht "forte". Aber "forte" ist kein Gefühl. Der Auftrag "laut" oder "schnell" zu spielen, setzt leicht grobmotorische Aktionen in Gang. Wir beginnen zu drücken, zu forcieren oder uns ganz einfach anzustrengen. Aber was meint dieses Forte in Sacre du printemps? Es ist eine ganz andere emotionale Ladung als das Forte in einer Brucknersinfonie. Die Frage ist: Wie "verkörpere" ich archaisches Stampfen, oder wie, des Göttlichen teilhaftig zu werden?
Bilder entlocken Bewegungsgefühle und erlauben jedem Menschen, sie mit seiner ganz persönlichen und natürlichen Lebens- und Bewegungserfahrung zu füllen. Technisches Denken dagegen oder analytische Bewegungsaufträge lassen sich schwer in ein individuelles Bewegungsrepertoire integrieren. Sie führen leicht zu künstlichen und stereotypen Mustern, die aufgesetzt wirken, sich nicht gut anfühlen und nicht selten auf Dauer Beschwerden hervorrufen.
In diesem Sinne werden Übestile im Unterricht gelernt. Eine rechtshemisphärische Unterrichtssprache, in der dem Lehrer die gefühlsmäßige und motorische "Ladung" von Sprache und Bewegung bewusst ist, ist die beste Weise, Schüler ein sinnvolles und musikalisches Üben zu lehren.
Resumée
Üben mit der "Wie-Frage" ist anspruchsvoll und erfordert Aufmerksamkeit. Dafür ist es effektiv, spart Zeit, orientiert sich an positiven Gefühlen und beugt so Musikererkrankungen vor.
Lösungsorientiertes Üben kann auf der Basis des musikalischen Ausdrucks verlässliche Vorstellungen kreieren, die im entscheidenden Moment auf der Bühne abrufbar sind. Auf diese Weise werden Leistung und Erfolg zu Früchten einer Arbeit, die nicht das Ergebnis fokussiert, sondern der Entwicklung Be-Achtung schenkt.
Literatur
Altenmüller E/ Jabusch Ch (4/2006) Üben mit Kopf, in "Das Orchester" Schott Verlag
Hildebrandt H (2002) Musikstudium und Gesundheit, Peter Lang Bern
Stockmann A (1994) "Dispokinesis", in Musikmachen, spannend, aber nicht verspannt. Beiträge zur Körperarbeit mit Musikern, LAG-Verlag, Remscheid
Stockmann A (11/1996) Die Disposition des Musikers, in "Das Orchester" Schott Verlag
Stockmann A (5/1999) Hilfen für die Streicherpraxis, in "Üben und Musizieren" Schott Verlag
Wieland R/ Uhde J (2002) Forschendes Üben. Wege instrumentalen Lernens, Bärenreiter Verlag Kassel
Gustorff M (2004) Practising without problems. Mental training for (Jazz)Musicians, Gustorff M Music Design